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Die Wüste und die Erfahrung des Raumes

Oben: Nachtlager in der Nähe von Ghat, 5.2.2005
Unten: Fussabdruck, Felszeichnung, Messak-Gebiet

Von Aurel Schmidt

1.
An der algerisch-malischen Grenze in Tin Zahouatine, mitten in einem Niemandland, fragte der algerische Zollbeamte die Reisenden, die sich in seinem Büro gemeldet hatten: „Reisen Sie ein oder aus?“ Die Frage zeigt, wie sehr die Grenze in der Wüste etwas Frawürdiges, Nichtssagendes, aber gleichwohl Unverzichtbar ist. 

Während der Fahrt durch die Wüste ändert sich ihre Gestalt unablässig. Am besten wäre es, an einen kinematografischen Ablauf denken, an ein Road Movie. Alle paar Stunden wechselt das Setting und beginnt eine neue Vorstellung: Sand, Fläche, Ausdehnung. Kein Baum, kaum Horizont. Fast ohne Übergang tritt eine Verdichtung ein, die Wüste schiebt sich zusammen, es bilden sich Oueds (Wadis, Trockentäler), Felsen, Gebirge. Wieder nach einer Weile führt die Fahrt durch Sanddünen oder Steingärten. Einmal ist der Raum flach, in der Vorstellung kaum strukturiert, einmal ist er eingeschnitten, gekerbt. Nicht zu reden von den Farben, die seine topografische Form herstellen, durch die Verteilung des Lichts, durch Kontraste, mit denen Nähe und Ferne, Oberflächen, Singularitäten, Konsistenzen markiert werden.

Die Fahrt durch die Wüste ist eine Erfahrung. Mit dem Begriff ist ebenso die Durchfahrt gemeint, wie darunter die Schritte zu verstehen sind, die im Leben unternommen und bei der Gewinnung von Erkenntnissen gemacht werden. Erfahrung ist, so gesehen, ein Vorgang im doppelten Sinn. Noch besser wäre es, von einer Prozession zu sprechen. Prozess oder Prozession heisst soviel wie: Ablauf, Hergang, Umzug. Darüber hinaus aber meint der Ausdruck auch, dass durch die vorgenommene Schrittfolge ein Zwischenraum hergestellt wird. Spazieren und „espace“, der französische Ausdruck für Raum, haben den gleichen etymologische Wurzel (lat. „spatium“, der zwischen zwei Gegenständen gedachte Raum; örtliche Ausdehnung). Darum gehe ich Schritt für Schritt vor. (Das ist meine Vorgehensweise, meine Methode. Bis ich angekommen bin.)

Das könnte der erste Versuch einer Einteilung, Strukturierung und Anordnung des Raums sein. Zwischen meinem momentanen Ort, wo ich mich aufhalte, und dem (vorläufig noch) undefinierbaren Raum, der mich umgibt und in dem ich mich aufhalte, wird ein Zwischenraum eingerichtet, ein Orientierungsraum mit einem Hier und einem Dort, den ich über überschauen und begreifen kann.

2.
Der Raum ist seit Langem ein philosophisches Problem erster Ordnung, was wohl auch mit der Digitalisierung des Raums und seiner Virtualisierung ebenso wie mit den modernen Kommunikationstechnologien zu tun hat, die ihn gründlich verändert haben. Das Internet hat gewissermassen die Postkutsche ersetzt – oder meinetwegen das Kamel oder das Geländefahrzeug.

Auf paradoxe Weise zusammengefasst, könnte man sagen: Ich weiss, wo ich bin, nämlich da, wo ich mit den Füssen auf dem Boden stehe, aber ich weiss nicht, oder nicht auf Anhieb, wo der Raum ist und wie ich ihn beschreiben könnte?

Auf die Frage, woher die Faszination für die Wüste kommt, sind verschiedene Antworten möglich. Die kirgisische Steppe, die patagonischen Ebenen, der Changtang (das tibetische Hochland), die Great Plains in Nordamerika stellen das Verhältnis von Individuum und Raum in besonderer Weise her oder heraus, beziehungsweise sie stellen das Individuum so in den Raum, dass ihm dabei Hören und Sehen vergeht – und Denken. Man muss also eine kleine Anstrengung vornehmen, um dem Raum auf die Spur zu kommen.

Mal angenommen: Ich stehe auf einer kleinen Erhöhung in der Wüste. Soweit das Auge sieht, kein Zeichen, kein Hügel, keine menschliche Spur (kein Wegweiser, keine Reklamewand, keine Parabolantenne). Ich drehe mich 360° im Kreis und sehe in jeder Richtung mehr oder weniger das Gleiche. Das Raum, der mich umgibt, scheint grenzenlos, er hat keinen Anfang und kein Ende, oder er fängt an jedem denkbaren Ort an und hört an jedem auf. Beim ersten Hindernis, bei der geringsten Auffälligkeit fange ich an zu interpretieren – zu phantasieren. Es soll Menschen geben, die diese Haltlosigkeit nicht aushalten und nur einen einzigen Wunsch haben: den Rückzug in die Welt anzutreten, in der die Zeichen wieder in dichter Anordnung anzutreffen sind.

Voraussetzungslos fällt es niemandem leicht, sich im Raum zu orientieren beziehungsweise sich unter dem Raum etwas Präzises vorzustellen. Ist unter der Wüste und infolgedessen unter dem Raum eine Leere vorzustellen, die bis zum nächsten Unterscheidungsmerkmal reicht oder sich am fernen Horizont verliert, oder ist darunter etwas wie ein verschlossenes Zimmer zu verstehen, in das eingesperrt ist, wer anfängt, darüber nachzudenken? Wenn ich immer nur geradeaus gehe, komme ich nirgends hin, weil ich nichts anderes mache, als immer weiterzugehen. Das führt nirgends hin, einmal muss Schluss sein. Einmal muss ein Punkt des Weges erreicht sein, wo ich Halt machen und das Bedürfnis nachgeben kann, mich zu orientieren.

3.
Das war es vielleicht, was der algerische Zöllner-Philosoph gemeint hatte. Gehen oder Kommen – beides ist möglich. Man muss sich entscheiden und Stellung nehmen. Ist das getan, kann ich endlich die Richtung des Wegs bestimmen, kann ich zweitens weiter gehen und habe ich drittens etwas verstanden.

Nämlich dies: Der unbegrenzte Raum ist kein Raum. Unbegrenzt, ist er nur etwas Diffuses, Strukturloses. Ich muss daher den Raum definieren, das heisst, ihn erläutern, erklären, bestimmen, sagen, was ich darunter verstehe. Definition ist ein vom Lateinischen abgeleiteter Begriff (von lat. „finis“, Grenze). Definieren heisst also, eine Grenze ziehen. Ich sage, was eine Sache bedeutet, in dem ich einen Kreis darum herum ziehe und weglasse, was nicht dazu oder hineingehört.

Hat der Raum einmal einen Umriss erhalten, ist er erreichbar im Sinn von erfassbar geworden, aber auch im Sinn von betretbar. Ich weiss dann, dass ich nicht zufällig irgendwo bin, sondern an einem bestimmten, nicht beliebigen, nicht auswechselbaren Ort.

Der Raum muss, heisst das weiter, nach einem Wort von Martin Heidegger, eingeräumt werden. Für Heidegger bedeutete Einräumen, dass im Raum ein Anzahl von Punkten und Orten fixiert und so seine Relationen bestimmt werden, notfalls willkürlich. Etwa so: Hier ist Punkt A. Von A nach B liegt eine Distanz, die eine erste Orientierung zulässt. Die zusätzlichen Dimensionen von B nach C macht es möglich, von der Linie (vom Weg) zur Fläche vorzugehen.  Kommt noch eine weitere (dritte) Masseinheit hinzu, haben wir es endlich mit dem zu tun, was wir gemeinhin als Raum bezeichnen (Länge, Breite, Höhe, wenigstens Höhenunterschiede).  

Heidegger hatte die Skulptur, die er im Raum platzierte, benützt, um den Raum zu bestimmen. Damit setzte er einen Ordnungspunkt fest, von dem ausgehend sich sämtliche Parameter festlegen lassen. Denkbar ist auch, dass eine Wegkapelle oder ein markanter Felsen diese Funktion erfüllen kann. Der Ort ist der Fixpunkt, der es möglich macht, dem Raum eine Grenze, ein Mass und eine Dimension zu geben und so schliesslich eine Struktur.

4.
Der Raum ist nicht fassbar, ausser wenn ich ihn durch meine Position darin so festlege, dass er räumlich wird. Das ist natürlich eine solipsistische Position: Ich mache mich zum Mittelpunkt. Aber wenn der Ordnungspunkt eine Skulptur oder eine Wegkapelle oder meinetwegen ein verrostetes Auto am Wegrand sein kann, dann kann es auch meine Person beziehungsweise meine Position sein, die sich für die Koordinaten des Raums verwenden lassen. Jeder Nomade weiss das und macht das Gleiche, wenn er seinen Teppich auf dem Sand ausrollt und sich darauf setzt. Sitzen in der Wüste ist ein philosophischer Akt. Es ist eine topologische und existenzielle Bestimmung.

Durch Einteilung und Aussonderung, das heisst durch Grenzziehung, wird also das Eigentliche, Essenzielle, Singuläre bestimmt und benannt. Doch der Raum ist keine absolute Grösse, sondern er besteht aus einer Vielzahl von verschiedenen, ineinander greifenden, Unterräumen oder potenziellen Räumen, die entstehen, weil es viele Definitionen des Raums gibt oder viele Definitionen, die von verschiedenen Positionen aus vorgenommen werden. Es sieht aus, als würde der Verstand nicht ausreichen, um ihn zu begreifen, und nur die Tatsache des Raums als Annahme, als Vorstellung, als Konzept, das heisst als Möglichkeit, lässt uns ein wenig aufatmen.

5.
Heute erklärt die moderne Physik, dass der Raum mit dem Urknall entstanden ist. Davor war eine auf den Nullpunkt komprimierten Masse von höchster Energieladung ohne räumliche Ausdehnung. Als diese Masse unter dem ungeheuerlichen Druck der Kräfte explodierte und rasend in alle Richtungen expandierte, entstand als Folge der Raum. Es ist also, nach dem aktuellen Stand der Theorie, falsch anzunehmen, dass der Urknall im Raum, das heisst in einem vorgängig schon gegebenen Raum, erfolgt ist. Der Raum  ist und umfasst vielmehr das, was als Folge der Expansion der Kräfte seit dem Urknall entstanden ist, das heisst die Totalität dessen, was physikalisch gegeben ist, mit mir (und uns) darin als Teil des Ganzen.

Sollte das unverständlich sein, dann ist es doch auf jeden Fall in höchstem Mass bewegend. Alles ist offen, im Fluss, und es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als vom Paradoxon oder Provisorium zur Poesie überzugehen, wie die Aboriginels in Australien, die mit ihren Songlines einen imaginären Raum einrichten (einräumen) und damit das Problem des Raums auf eine ästhetische Weise lösen.

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