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Ibrahim al-Koni und die Philosophie der Wüste
Ibrahim al-Koni, lebt und arbeitet in Goldiwil.

Reportage SonntagsZeitung > (PDF 342KB)

Von Aurel Schmidt

Wer einmal die Wüste bereist hat, wird wie von einem Virus befallen sein. Das Erlebnis der Begegnung mit ihr hat ihn ein für allemal ergriffen. Von diesem Augenblick an lässt die Wüste ihn nicht mehr los. Sie ist ein wunderbarer, magischer, aber auch ein bedrohlicher, lebensfeindlicher Ort. Ihre Gesetze sind unerbittlich. Von den Menschen, die sie betreten, verlangt sie die Bereitschaft, sich auf ein existenzielles Abenteuer einzulassen. Man muss die Wüste aushalten. Individualistische Eskapaden sind nicht gestattet. Der Mensch ist nichts für sich, sondern eins mit dem All – am schönsten zu erfahren nachts im Sand schlafend. Wer diese Bedingungen erfüllt, wird in der Wüste ein Glück erfahren, das nicht seinesgleichen kennt.
Für den libyschen Schriftsteller Ibrahim al-Koni ist die Wüste Heimat. Sie ist ihm vertraut. Er ist Targi, also Angehöriger des Tuareg-Volks, das zwischen Algerien, Libyen, Niger und Mali zu Hause ist; er kennt sich mit den örtlichen Verhältnissen aus.
In seinen Werken nimmt die Wüste einen zentralen Platz ein. Al-Koni beschreibt sie in immer neuen poetischen Rhapsodien: ihre Härte, ihre extreme Einsamkeit unter einem brennenden Himmel, ihre Poesie auch, ihre Faszination. Er spricht von der „weglosen Wüste“, der „gewaltigen, ewigen Weite“, von den „nackten Ebenen“. „Die Wüste ist ein Schatz“, sie ist das „Land der Verheissung“, auch das „Land Gottes“ – aber nur für den, der sich an ihre strengen Gesetze hält.
Auffallend ist, dass in den Erzählungen selten individuelle Menschen auftreten; eine Ausnahme bildet al-Konis Tuareg-Epos „Der Magier“. Meistens werden sie „die Stammesführer“, „der fahrende Seher“, „der Bote“, „der Zauberer“, „die Verständigen“ und so weiter tituliert. Dafür stehen umso mehr anonyme geistige, spirituelle, magische Kräfte als Agenten der Handlung im Vordergrund: Schlangen, Dschinnen, Fieber, das sich ausbreitet und die Menschen ergreift, Steine, die leben, das Böse, der Wahn, der Wind, das Wort, das Gesetz. Sie sind es, die in einem potenziellen Kräftefeld die Prozessen in Bewegung setzen. Auch Tiere gehören dazu.

Der Mensch selbst ist, wenn er vorkommt, unfrei. Er muss sich an die Verhältnisse, an die Ordnung der Wüste anpassen. Befolgt er sie, wird er eine Form von Glück, von „Erlösung“ (Zitat al-Koni) finden. Das Mädchen Tasidert fragt in einer Erzählung im Band „Meine Wüste“: Warum hat Gott die Wüste als Wüste geschaffen? Die Antwort, die es bekommt, lautet lapidar und erhellend: Damit sie demjenigen als Zufluchtsstätte dient, der frei sein will.
Diese Freiheit ist nicht umsonst zu haben. Sie ist im Gegenteil das Pfand einerseits und das Geschenk andererseits für ein radikal gelebtes Leben. Zuerst müssen die Prüfungen bestanden werden. „Der Mensch gibt sein Leben hin auf der Suche nach dem verlorenen Selbst, und wenn er es findet, ist er fasziniert, tanzt vor Freude und fällt in Ekstase“, heisst es im Erzählungsband „Die steinerne Herrin“, dem Band mit den schönsten Erzählungen. Und in „Meine Wüste“ liest man: „Der Mensch muss sterben, um frei zu sein“ oder bereit sein zum Sterben. Nur so erlangt er die Freiheit.
Wenn der Mensch verleitet wird, sich niederzulassen, besiegelt er sein Schicksal. Das geschieht den Menschen, die aus Timbuktu ausziehen, sich in der Wüste niederlassen und eine Stadt bauen. Daran scheitern sie. Das ist das Thema des Romans „Der Magier“. Wer die Wanderschaft aufgibt, das heisst das Suchen nach Waw, nach der unerreichbaren Stadt, nach dem Paradies, das nicht von dieser Welt ist, um den ist es geschehen. Daher hat die „weglose Wüste“ bei al-Koni die tiefere Bedeutung des Lebens als nie endender Wanderschaft. Das ist die Philosophie der Wüste, die al-Koni verkündet.

Ein moralischer Rigorismus kommt in den Werken al-Konis zum Ausdruck. Oft nur schwer und oft überhaupt nicht gelingt es den Menschen, die Gesetze der Wüste einzuhalten. Meistens treibt sie etwas an, das al-Koni pauschal als „Gier“ bezeichnet, der sie verfallen.
Wer diesem Frevel erliegt, wird bestraft – al-Koni setzt dabei surrealistische Stilmittel ein. Assuf („Blutender Stein“) verwandelt sich in ein Mufflon, um seinen Peinigern zu entkommen. Daraufhin geschieht Folgendes: „Der Berg spaltete sich, die Sonne verdunkelte sich, und die Ränder des Wadis verschwanden in den ewigen, unwegsamen Wüsten.“ Amchuk (in „Die steinerne Herrin“) wird umgebracht, zwei Tage später beginnt „der Angriff der Schakale“. In der Erzählung „Das Gold auf dem Berg“, die al-Koni „der Schweiz gewidmet“ hat (in „Meine Wüste“), wird ein Eremit von den Menschen, die vermuten, dass er einen Schatz bewahrt, den es aber nicht gibt, lebendig begraben. Später stellt sich heraus, dass der Sarg leer ist. Daraufhin versiegen die Quellen.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der Bestrafung durch al-Konis Werke. Für die einen, die das Gesetz der Wüste und des Lebens befolgen, wo Geduld „das Wertvollste“ („Der Magier“) ist, bedeutet die Wüste Freiheit und Rettung, für die anderen ist es ein Ort der Verdammnis und des Todes.
Ein weiteres Thema al-Konis sind die Felszeichnungen in der Wüste im Südwesten Libyens.

Er trieb die Zicklein in das Wadi und stieg die schwarzen, einsamen Anhöhen hinauf, bis er ins Reich der Höhlen und der Märchen gelangte...In den Wänden hatten die Ahnen farbige Zeichnungen geritzt – Giraffen und Gazellen, Einhorn und Mufflon, verschleierte Jäger und entschleierte Götter. Darüber, an die Höhlendecke, hatten sie in Tifinagh (der Tuareg-Sprache, Anm. A.S.) Symbole und gezeichnete Prophezeiungen geschrieben. Zaubersprüche und Hinweise für die Menschen, die nach Wasserstellen suchen.
Als Kind...hatte ihn die Mutter an der Hand genommen, um ihm die Wüste und die Höhlen zu zeigen. Sie war mit ihm die bemalten Wände entlanggegangen und hatte ihm erklärt, dass sei die Wurzel und die Geschichte. Sie hatte ihm viel von den ausgestorbenen Tieren erzählt und von der Bedeutung der Symbole und der Wörter.
Seither eilte er, wenn ihn sein Weg durch ein neues Wadi führte, immer gleich zu den Felsen, um auf den Steinen nach den geheimnisvollen, prächtigen Spuren zu suchen.
(„Der Magier“)

Im Roman „Blutender Stein“ betrachtet der Junge Assuf, wenn er mit seiner Ziegenherde unterwegs ist, die Felszeichnungen im Wadi Matendoush – die „wundervollsten Zeichnungen des prähistorischen Menschen in der ganzen Sahara“, die von „christlichen“ Touristen aufgesucht und bewundert werden.

Über Jahrtausende hinweg hatten der gewaltige Priester und der heilige Mufflon ihre eingemeisselten Züge bewahrt, klare, tiefe, erhabene Züge, die aus den reglosen Felsen sprechen...Zeichnungen schmücken die Felsen der Berge und die Höhlen auch in den anderen Wadis in ganz Messak Settafet. Schon als kleiner Junge hatte er sie entdeckt, wenn er sich mit der unfolgsamen Herde müde gelaufen hatte und in den Höhlen Zuflucht und Schutz vor der Sonne und einige Augenblicke der Ruhe suchte. Dann vertrieb er sich die Zeit damit, die farbigen Zeichnungen zu betrachten: Jäger mit seltsam ovalen Gesichtern, die hinter vielen Tieren her rannten, von denen er nur den Mufflon und die Gazellen und den wilden Büffel kannte. Auch nackte Frauen mit grossen, übergrossen Brüsten gab es auf den Felsen.

In den Werken al-Konis verbinden sich Kulturen und Erzählweisen über die Grenzen hinweg und durchdringen sich das Realistische und das Phantastische zu einer eigenwilligen, nur schwer erklärbaren Einheit. Die Wüste wird zu einem kosmischen Schauplatz der wirkenden Kräfte. Am Ende wird der Mensch, der sich bewährt hat, belohnt mit etwas, das unbeschreiblichermassen über die Sprache hinausgeht – als hätte man einen kurzen, entscheidenden Blick über eine geheimnisvolle Grenze getan, von dem man sich nie mehr erholt.
Man kann al-Konis Mischung aus Islam, Magie und Tuareg-Tradition eklektisch nennen, aber sie ist der Weg, der zum Epos führt, das sich als Gattung jedem rationalen Zugriff entzieht. Die Ordnung der Welt ist nicht von dieser Welt. Sie ist gegeben und hat ihren Ursprung woanders, aber wo? Dies herauszufinden ist die Aufgabe derer, die auf der Suche sind, die sich auf den Weg nach der Erkenntnis gemacht haben.

"Der Magier" (Basel 2002), das Epos der Tuareg mit 800 Seiten, gilt als al-Konis Hauptwerk. Im Roman "Blutender Stein" (Basel 1998) ist oft von den libyschen Felsenzeichnungen die Rede. Der Erzählungsband "Die steinerne Herrin" (Basel 2004) enthält "ergänzende Episoden" zum "Magier". Der Erzählungsband "Meine Wüste" (Basel 2007) versammelt kürzere und längere Erzählungen, in denen das Leben in der Wüste im Mittelpunkt steht. Der Lenos Verlag in Basel hat sich um die Verbreitung des Werks von al-Koni verdient gemacht. Bei Lenos sind noch weitere Werke des libyschen Autors erschienen, deren Übersetzung Hartmut Fähndrich besorgt hat.

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